Wort zum Sonntag 3./4. März 2011 „Das Ohr aufwecken“
Der wahrscheinliche neue Bundespräsident, einstige Bürgerrechtler und evangelische Pfarrer Joachim Gauck hat bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele im vergangenen Jahr eine mich tief beeindruckende und bewegende Rede gehalten. „Das Ohr aufwecken, die Augen, das menschliche Denken“, war der Leitgedanke.
Immer wieder neu hören und sehen lernen, festgefahrenes Denken aufbrechen – darum geht es in Deutschland und Europa, sicher aber auch in unserer Mutter Kirche. Natürlich waren es politische Gedanken, die Gauck vortrug, zu den Werten, aus denen Europa lebt; sie sprachen aber auch die Grundwerte christlichen Glaubens an, ohne die die wunderbare europäische Idee keine Zukunft hat.
Ist es noch in unseren Köpfen, was die Gründungsväter vor über 60 Jahren bewegt hat, sich dafür einzusetzen, dass sich die Feinde von einst versöhnten, dass nach brutalsten Auswüchsen des Krieges eine Gemeinschaft des Friedens entstand? Dass mittlerweile Grenzen fielen und schlimme Mauern überwunden wurden? Natürlich sorgen wir uns heute um Europa. Die Eurokrise beherrscht seit Monaten die Medien, genauso wie die Überschuldung mancher Mitgliedsstaaten. Schon vor Jahren haben sich die Europäer wie in einer Festung gegenüber den Menschen abgeschottet, die aus den Elendsregionen unserer Erde zu uns zu fliehen versuchen. Die Angst vor Überfremdung ist in vielen Köpfen.
Auch wenn ich mich oft über den neuen Kulturreichtum in Verl freue, kann und will ich diese Sorge nicht klein reden. Aber die Angst kann auch die Augen und Ohren verschließen, ja sogar den Verstand blockieren und jedes Grundvertrauen nachhaltig vergiften. Und da stellt sich dann ein Mann wie Gauck hin und nennt es ein Wunder, dass er heute als freier Mann in ganz Europa öffentlich auftreten kann. Einer, der „von draußen kam“ aus einem mit Stacheldraht und Selbstschussanlagen abgeriegelten Machtbereich, dessen Herrschern die Werte Europas und des christlichen Glaubens nichts galten. Joachim Gauck ist einer, der noch weiß, wie es Unterdrückten geht und der die Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung noch kennt.
Ich bin froh, dass Persönlichkeiten wie Joachim Gauck uns immer wieder daran erinnern, was Europa wirklich verbindet: zuallererst die Freiheit, genauso aber auch der tiefe Wunsch nach bleibendem Frieden und höchstem Respekt vor der Würde eines jeden Menschen, auch mit seiner Religion. Es gab viele Gründe, warum mutige Menschen im Osten so risikoreich und ausdauernd dafür kämpften, Nachteile einsteckten, Repressionen aushielten, nur damit endlich die Mauern fielen. Das sind aber auch die Gründe, dass viele Menschen aus den Elendsregionen unserer Erde das Leben bei uns für so wertvoll erachten, dass sie selbst ihr Leben dafür riskieren.
Joachim Gauck hat recht: Nicht Strategien der Angst, nicht Taktiererei und Selbstsucht werden Europa retten, sondern Menschen, die mit offenen Augen und Ohren, mit wachem Verstand, aber auch mit liebevollem Herzen handeln. Vieles ist wichtig, aber nicht nur Euro und Wohlstand halten Europa am Leben, sondern dass wir alle, jeder von uns, Verantwortung für seine Werte der Menschlichkeit übernehmen.
Auch Joachim Gauck wird nicht fehlerlos sein, aber das macht mir – wohldosiert – andere Menschen, auch Bundespräsidenten, durchaus sympathisch. Ich bin gespannt auf die Zeit nach der Bundespräsidentenwahl. Der Altbundespräsident Horst Köhler trat sein Amt an mit den Worten: „Gott segne unser Land!“, und Gott sagt zu uns: „Auch ihr sollt ein Segen sein!“
Ihnen allen einen gesegneten Sonntag. Ihr Arthur Springfeld (Diakon)