5. Sonntag Osterzeit B „Weinstock“ (Mai 2012)
Rehagel, Daum, Klinsmann, die anderen vielen Namen fallen mir nicht ein. Aber das sind oder auch waren alles Trainer von angesehenen Fußballvereinen. Und bumms – weg waren sie – oft über Nacht. Viele wären gerne geblieben, trotz allem was gegen das Dableiben sprach: Die Serie von Niederlagen, der drohende Abstieg, die Pfiffe der Fans, vielleicht auch der Aufstand der Mannschaft. Und dann natürlich, die Besserwisser in Presse und Fernsehen.
Mancher der Trainer hätte sicher gerne noch bewiesen, dass sein Konzept doch funktioniert, dass sie damit doch aufsteigen oder Meister werden können. – aber wer weiß?
Der Verein, der Vorstand, die Mannschaft stand nicht mehr hinter ihnen. Um mit der Bibel zu sprechen: Die Reben verließen den Weinstock. Beim Fußball ist es genau anders als in der Bibel. Da wird der Weinstock gerodet – der Trainer – und man behält die Reben. Ob die Spieler mit einem neuen Trainer Frucht bringen oder ob sie verdorren, wird sich zeigen, spätestens zum Ende der Saison.
Wenn es nicht mehr weitergeht, wenn es nicht mehr auszuhalten ist, muss einer gehen.
Klinsmann, Daum, Rehagel sind da nur einige von vielen.
Viele Menschen halten es in Deutschland nicht mehr aus. Rund 150.000 gehen jedes Jahr ins Ausland; es gibt Fernsehserien, die über die Auswanderer berichten.
Und auch in unserem Land verlassen Menschen ihre Heimat, ziehen vom Osten in den Westen, vom Norden in den Süden, der Arbeit hinterher.
Wenn Beziehungen nicht mehr stimmen, wenn Ehen kriseln, dann geht einer, zieht aus. Manchmal gehen sogar beide, und nur noch die Kinder bleiben in der gemeinsamen Wohnung zurück.
Irgendwann gehen auch die Kinder aus dem Elternhaus, um zu studieren oder um eine eigene Familie zu gründen, ihr eigenes Haus zu bauen.
Aber wer geht, lässt jemanden zurück.
Bei den Auswanderern sind es die Nachbarn und Freunde, die zurückbleiben. Die Gemeinden, die – gerade im Osten Deutschlands, ich habe es diese Woche gesehen – geradezu entvölkert werden und sich nicht mehr entwickeln können.
In den gescheiterten Beziehungen und Ehen bleibt eine oder einer zurück mit der Verantwortung für die Kinder, mit dem Gefühl, in den Scherben sitzen zu bleiben.
Und wenn die Kinder ausgezogen sind, sitzen die Eltern in dem nun stillen Haus und spüren mit einem Mal, wie alt sie geworden sind.
Auch Jesus befürchtet, dass seine Jünger gehen könnten. Das ganze Evangelium hört sich an wie ein Werben ums Dableiben. So, als seien die Jünger schon auf dem Sprung und müssten auf alle nur erdenkliche Weise vom Bleiben überzeugt werden.
Darum spricht Jesus vom Weinstock und seinen Reben: Ein Stamm und seine Zweige – enger kann man nicht verbunden sein. Ohne Verbindung zum Stamm muss der Zweig vertrocknen. Ohne den Weinstock kann die Rebe nicht existieren.
Jesus wirbt für’s Bleiben – dabei ist er es, der geht.
Was Jesus seinen Jüngern von sich als dem Weinstock und ihnen als den Reben sagt, steht in den „Abschiedsreden“ des Johannesevangeliums: Vier lange Kapitel, die Johannes vor den Beginn der Leidensgeschichte gestellt hat, vor den langen Abschied, der durch die Tiefe des Todes in himmlische Höhen führt. Ein Abschied, der Jesus endgültig von seinen Jüngern trennt – um ihn so für immer mit ihnen zu verbinden.
Und zu dem Wissen um die nahende Trennung von den Jüngern kommt die Ahnung, dass die Jünger sich von ihm trennen könnten, wenn er erst nicht mehr da ist.
Denn es ist nicht leicht, mit jemandem verbunden zu bleiben, den man nicht mehr sieht.
Davon können alle ein Lied singen, die versuchen, eine Wochenendbeziehung zu führen. Die eine Freundschaft zu jemandem aufrecht erhalten wollen, der oder die in eine andere Stadt, ein anderes Land gezogen ist. Die die Verbindung zu den Eltern, den Großeltern oder den Verwandten halten wollen, nachdem man eine eigene Familie gegründet hat.
Jesus will, dass seine Jünger bleiben. Dass sie „in ihm“ bleiben, wie die Rebzweige am Weinstock. Und dass sie seine Jünger bleiben.
„Bleib doch noch “ – so bitten Eltern ihre Kinder, bittet die Oma den Enkel. Aber es drängt sie hinaus, die Kinder, die Enkel, den Partner, sie wollen nicht bleiben.
Jetzt könnte man auch klagen über die, die nicht in der Gemeinde bleiben wollten, nicht in der Kirche; die irgendetwas – oder irgendwer – hinausgedrängt hat.
Wer zurückbleibt, bittet, klagt. Und droht vielleicht auch manchmal unverhohlen, wie Jesus den Zweigen droht, die sich partout vom Weinstock trennen wollen: „Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und sie müssen brennen.“
Ob seine Drohung Erfolg hatte? Oder provoziert sie nicht dazu, jetzt erst recht den Schnitt zu machen?
Wer zurückbleibt, hat nicht viel mehr als Worte, um den aufzuhalten, der davonziehen will.
Wer zurückbleibt, hat nicht viel mehr als Worte.
Was vermögen Worte gegen den Reiz des Neuen, gegen die Verlockungen des Aufbruchs, gegen ein neues Leben?
Worte haben keine Kraft; sie können einen Menschen, der gehen will, nicht aufhalten.
Und zugleich haben Worte alle Macht der Welt.
Worte können, wie Jesus sagt, „rein“ machen: Sie können reinen Tisch machen und Fehler und Schuld vergeben; sie können einen Menschen anders da stehen lassen, als andere ihn sehen; sie können ein neues Leben schenken mitten im Alten.
Worte können den abwesenden Menschen ganz nah sein lassen – auch ohne SMS und eMail.
Worte können Sehnsüchte und Träume wecken, Worte können Dinge, Menschen, die Welt verändern. Worte können am altbekannten Ort alles neu erscheinen lassen.
Jesus kommt zu uns durch das Wort, und wir bleiben durch das Wort mit ihm verbunden, ob wir gehen oder bleiben. Auch wenn wir gehen, wird die Verbindung nicht zerreißen. Aber wir müssen nicht gehen, um neue Dinge, neue Welten zu entdecken.
Jesus, das eine Wort Gottes, macht uns frei zu entscheiden, ob wir gehen wollen oder bleiben. Wir müssen nicht. Wir können uns entscheiden.
Auch dafür, zu bleiben.